Film-Rezensionen: Ein Kuss von Béatrice (Sage-Femme)
Claire (Catherine Frot) arbeitet mit Leib und Seele als
Hebamme, hat einen Sohn (Quentin Dolmaire), der Medizin studiert und scheint
mit sich und der Welt zufrieden, die ihr ein Auskommen und Seelenfrieden bietet, nicht mehr und nicht weniger. Sie raucht und trinkt nicht, isst kein
Fleisch und fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie lebt in einer kleinen,
bescheidenen Wohnung in einem Hochhauskomplex und liebt ihren Kleingarten vor der Stadt. Die Avancen des dortigen Nachbarn Paul (Olivier
Gourmet) weist sie zurück, sie will eigentlich nur ihre Ruhe.
Doch nichts bleibt, wie es ist, alles verändert sich, und so
erfährt sie eines Tages, dass ihre Station im Krankenhaus geschlossen werden
soll, dafür erhält sie das Angebot, in eine neue, moderne Geburtsklinik zu
wechseln. Ihr Sohn eröffnet ihr, dass seine Freundin von ihm schwanger ist,
weswegen er sein Studium abbrechen möchte, und mit der Ruhe ist es für Claire endgültig vorbei, als aus heiterem Himmel eine Frau namens Béatrice
(Catherine Deneuve) über ihr Leben hereinbricht.
Die beiden Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein,
Claire ist zurückhaltend, leise und bescheiden, während es für Béatrice nicht
laut genug sein kann. Sie strotzt trotz ihres fortgeschrittenen Alters vor
Energie, ist exaltiert, lebenslustig und sprunghaft, gewinnt und verliert Geld
beim Kartenspiel in finsteren Spelunken. Aber Claire und Béatrice haben einen
gemeinsamen Berührungspunkt in der Vergangenheit, denn Béatrice war die
Geliebte von Claires Vater und alle drei haben eine Zeit lang zusammengelebt,
als Claire noch ein Teenager war. Eines Tages war Béatrice dann plötzlich
verschwunden, worauf sich der Vater das Leben nahm. Zu ihrer Mutter hat Claire
kein gutes Verhältnis, daher waren Béatrice und ihr Vater, ein ehemaliger
Olympia-Schwimmer, die wichtigsten Bezugspunkte in ihrem Leben. Als Béatrice
nun aus heiterem Himmel wieder auftaucht, kommt diese Vergangenheit wieder hoch
, mit der Claire eigentlich abgeschlossen hatte. Allerdings, wie es mit der
Vergangenheit so ist, man wird sie nie ganz los, und wenn sie in Gestalt einer
Powerfrau wie Béatrice daherkommt, lässt sie sich erst recht nicht abschütteln.
Während Claire vernunftbetont ist und die meisten
Vergnügungen ihr suspekt sind, hat Béatrice das Leben in vollen Zügen genossen.
Der Preis, den sie dafür zu zahlen hat – denn man weiß ja, dass es keinen
Genuss ohne Reue gibt – ist, dass sie nun im Alter allein ist, ohne Familie,
aber auch ohne Freunde, denn die hat sie auf ihrem furiosen Lebensweg stets
hinter sich zurück gelassen. Claire, die Tochter, die sie nie hatte, scheint
die Einzige, die Béatrice, die an einem Hirntumor erkrankt ist, nun noch zur
Seite stehen könnte. Die Frage ist, ist diese dazu bereit?
Béatrice und Claire stehen gleichnishaft für die Grille und
die Ameise aus der Fabel von Jean de La Fontaine. Jeder Zuschauer mag für sich
selbst entscheiden, ob ihm die Moral dieser Geschichte gefällt, das Urteil wird
wohl im Einklang mit der eigenen Lebensphilosophie ausfallen.
Regisseur Provost stellt zwei Frauen einander gegenüber, die
zwar über einen gemeinsamen Mann verbunden waren, ihren Weg aber alleine
gesucht und gefunden haben. Gab es in Béatrices Leben wahrscheinlich genug
Männer, so kamen und gingen sie, wie es ihr gefiel. Claire ist alleinerziehend
und zeigt kein Interesse an einer weiteren Beziehung. Erst durch den Schwung,
den Béatrice in ihr Leben bringt, lässt sie sich
zögernd auf ihren Nachbarn
Paul ein. Überhaupt bricht erwartungsgemäß nach und nach eine Schale auf und
ganz vorsichtig kommt eine andere Claire zum Vorschein, vielleicht ist das die
letzte späte Aufgabe, die Béatrice in ihrem Leben in Angriff nimmt,
ausnahmsweise einmal nicht ihren eigenen egoistischen Interessen folgend. Es
regt sich am Ende sogar etwas wie eine rebellische Ader in Claire, als sie das
Angebot der neuen Geburtsklinik, von ihr als „Fabrik“ verabscheut, ausschlägt
und tatsächlich mit ihrem Freund Paul darüber nachdenkt, etwas ganz Neues zu
wagen.
Der Film fließt trotz aller Exaltiertheit von Béatrice ruhig
dahin, wie die Seine, die hier, außerhalb von Paris, nichts mit der lauten
Großstadt zu tun hat, vielleicht für manchen Zuschauer zu ruhig und zu lang.
Aber wenn man sich darauf einlässt, gibt es schöne Szenen und anrührende Momente,
wie zum Beispiel jener, als Claires Sohn Simon, der seinem Großvater als Schwimmer nacheifert,
seinen Kopf durch die Tür steckt, als Claire und Béatrice alte Dias betrachten, und für einen Moment sein Gesicht mit dem an die Wand
geworfenen Abbild seines Vaters zu verschmelzen scheint, diese bitter-süße
Reminiszenz trifft Béatrice mit voller Wucht.
Die Entwicklung von Claire ist es, die der Film in langen
Sequenzen ausbreitet, aber das Leben ist nun einmal ein langsamer Prozess. Bis
zur Geburt eines neuen Menschen vergeht Zeit, und bis er seine endgültige
Gestalt gefunden hat, dauert es noch viel länger. Es wird erkennbar, dass die
beiden Frauen keine Gegensätze bilden, sondern vom Schicksal – oder vom Leben,
das sie geführt haben – dazu bestimmt sind, einander zu ergänzen und am Ende
das eigene Leben abzurunden.
Regisseur Martin Provost hat daher nicht zufällig den Beruf
der Hebamme für Claire gewählt. Der französische Titel ermöglicht ein
Wortspiel, so bedeutet „sage-femme“ einerseits „Hebamme“, andererseits
umschreibt der Ausdruck „sage femme“ eine kluge, vernünftige oder besonnene
Frau, all das ist Claire. Es gibt aber auch noch einen persönlichen Bezug
des Regisseurs zu dem Berufsstand, denn nach eigener Aussage hat ihm bei seiner
Geburt eine Hebame durch ihre Blutspende das Leben gerettet. Da er sie trotz
aller Bemühungen später nicht auffinden konnte, wollte er ihr in diesem Film
ein Denkmal setzen, indem er diese Geschichte in seine Handlung einfließen
lässt.
Die Geburtsszenen, die Claires Arbeitsalltag ausmachen,
verklären nicht das Wunder der Geburt, sondern zeigen ein realistisches Bild:
geboren wird man unter Schmerzen und braucht bei diesem Prozess kundige,
helfende Hände. Auch danach bedarf es noch lange Zeit der Fürsorge, bis man sein
Lebenskonzept gefunden hat. Ob es das richtige war, muss jeder am Ende für sich
selbst herausfinden.
Der Film feierte bei der diesjährigen Berlinale im
Wettbewerb (außer Konkurrenz) seine Weltpremiere.
Regie: Martin Provost
Drehbuch: Martin Provost
Musik: Grégoire Hetzel
Darsteller: Catherine Frot, Catherine Deneuve,
Olivier Gourmet, Quentin Dolmaire, Mylène Demongeot
117 Minuten
Deutscher Start: 08. Juni 2017
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen