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Dienstag, 6. Juni 2017

Film-Rezensionen: Ein Kuss von Béatrice (Sage-Femme)

Claire (Catherine Frot) arbeitet mit Leib und Seele als Hebamme, hat einen Sohn (Quentin Dolmaire), der Medizin studiert und scheint mit sich und der Welt zufrieden, die ihr ein Auskommen und Seelenfrieden bietet, nicht mehr und nicht weniger. Sie raucht und trinkt nicht, isst kein Fleisch und fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie lebt in einer kleinen, bescheidenen Wohnung in einem Hochhauskomplex und liebt ihren Kleingarten vor der Stadt. Die Avancen des dortigen Nachbarn Paul (Olivier Gourmet) weist sie zurück, sie will eigentlich nur ihre Ruhe. 

Doch nichts bleibt, wie es ist, alles verändert sich, und so erfährt sie eines Tages, dass ihre Station im Krankenhaus geschlossen werden soll, dafür erhält sie das Angebot, in eine neue, moderne Geburtsklinik zu wechseln. Ihr Sohn eröffnet ihr, dass seine Freundin von ihm schwanger ist, weswegen er sein Studium abbrechen möchte, und mit der Ruhe ist es für Claire endgültig vorbei, als aus heiterem Himmel eine Frau namens Béatrice (Catherine Deneuve) über ihr Leben hereinbricht.

Die beiden Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein, Claire ist zurückhaltend, leise und bescheiden, während es für Béatrice nicht laut genug sein kann. Sie strotzt trotz ihres fortgeschrittenen Alters vor Energie, ist exaltiert, lebenslustig und sprunghaft, gewinnt und verliert Geld beim Kartenspiel in finsteren Spelunken. Aber Claire und Béatrice haben einen gemeinsamen Berührungspunkt in der Vergangenheit, denn Béatrice war die Geliebte von Claires Vater und alle drei haben eine Zeit lang zusammengelebt, als Claire noch ein Teenager war. Eines Tages war Béatrice dann plötzlich verschwunden, worauf sich der Vater das Leben nahm. Zu ihrer Mutter hat Claire kein gutes Verhältnis, daher waren Béatrice und ihr Vater, ein ehemaliger Olympia-Schwimmer, die wichtigsten Bezugspunkte in ihrem Leben. Als Béatrice nun aus heiterem Himmel wieder auftaucht, kommt diese Vergangenheit wieder hoch , mit der Claire eigentlich abgeschlossen hatte. Allerdings, wie es mit der Vergangenheit so ist, man wird sie nie ganz los, und wenn sie in Gestalt einer Powerfrau wie Béatrice daherkommt, lässt sie sich erst recht nicht abschütteln. 

Während Claire vernunftbetont ist und die meisten Vergnügungen ihr suspekt sind, hat Béatrice das Leben in vollen Zügen genossen. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hat – denn man weiß ja, dass es keinen Genuss ohne Reue gibt – ist, dass sie nun im Alter allein ist, ohne Familie, aber auch ohne Freunde, denn die hat sie auf ihrem furiosen Lebensweg stets hinter sich zurück gelassen. Claire, die Tochter, die sie nie hatte, scheint die Einzige, die Béatrice, die an einem Hirntumor erkrankt ist, nun noch zur Seite stehen könnte. Die Frage ist, ist diese dazu bereit?

Béatrice und Claire stehen gleichnishaft für die Grille und die Ameise aus der Fabel von Jean de La Fontaine. Jeder Zuschauer mag für sich selbst entscheiden, ob ihm die Moral dieser Geschichte gefällt, das Urteil wird wohl im Einklang mit der eigenen Lebensphilosophie ausfallen.

Regisseur Provost stellt zwei Frauen einander gegenüber, die zwar über einen gemeinsamen Mann verbunden waren, ihren Weg aber alleine gesucht und gefunden haben. Gab es in Béatrices Leben wahrscheinlich genug Männer, so kamen und gingen sie, wie es ihr gefiel. Claire ist alleinerziehend und zeigt kein Interesse an einer weiteren Beziehung. Erst durch den Schwung, den Béatrice in ihr Leben bringt, lässt sie sich
zögernd auf ihren Nachbarn Paul ein. Überhaupt bricht erwartungsgemäß nach und nach eine Schale auf und ganz vorsichtig kommt eine andere Claire zum Vorschein, vielleicht ist das die letzte späte Aufgabe, die Béatrice in ihrem Leben in Angriff nimmt, ausnahmsweise einmal nicht ihren eigenen egoistischen Interessen folgend. Es regt sich am Ende sogar etwas wie eine rebellische Ader in Claire, als sie das Angebot der neuen Geburtsklinik, von ihr als „Fabrik“ verabscheut, ausschlägt und tatsächlich mit ihrem Freund Paul darüber nachdenkt, etwas ganz Neues zu wagen.

Der Film fließt trotz aller Exaltiertheit von Béatrice ruhig dahin, wie die Seine, die hier, außerhalb von Paris, nichts mit der lauten Großstadt zu tun hat, vielleicht für manchen Zuschauer zu ruhig und zu lang. Aber wenn man sich darauf einlässt, gibt es schöne Szenen und anrührende Momente, wie zum Beispiel jener, als Claires Sohn Simon, der seinem Großvater als Schwimmer nacheifert, seinen Kopf durch die Tür steckt, als Claire und Béatrice alte Dias betrachten, und für einen Moment sein Gesicht mit dem an die Wand geworfenen Abbild seines Vaters zu verschmelzen scheint, diese bitter-süße Reminiszenz trifft Béatrice mit voller Wucht.

Die Entwicklung von Claire ist es, die der Film in langen Sequenzen ausbreitet, aber das Leben ist nun einmal ein langsamer Prozess. Bis zur Geburt eines neuen Menschen vergeht Zeit, und bis er seine endgültige Gestalt gefunden hat, dauert es noch viel länger. Es wird erkennbar, dass die beiden Frauen keine Gegensätze bilden, sondern vom Schicksal – oder vom Leben, das sie geführt haben – dazu bestimmt sind, einander zu ergänzen und am Ende das eigene Leben abzurunden.

Regisseur Martin Provost hat daher nicht zufällig den Beruf der Hebamme für Claire gewählt. Der französische Titel ermöglicht ein Wortspiel, so bedeutet „sage-femme“ einerseits „Hebamme“, andererseits umschreibt der Ausdruck „sage femme“ eine kluge, vernünftige oder besonnene Frau, all das ist Claire. Es gibt aber auch noch einen persönlichen Bezug des Regisseurs zu dem Berufsstand, denn nach eigener Aussage hat ihm bei seiner Geburt eine Hebame durch ihre Blutspende das Leben gerettet. Da er sie trotz aller Bemühungen später nicht auffinden konnte, wollte er ihr in diesem Film ein Denkmal setzen, indem er diese Geschichte in seine Handlung einfließen lässt.

Die Geburtsszenen, die Claires Arbeitsalltag ausmachen, verklären nicht das Wunder der Geburt, sondern zeigen ein realistisches Bild: geboren wird man unter Schmerzen und braucht bei diesem Prozess kundige, helfende Hände. Auch danach bedarf es noch lange Zeit der Fürsorge, bis man sein Lebenskonzept gefunden hat. Ob es das richtige war, muss jeder am Ende für sich selbst herausfinden. 


Der Film feierte bei der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb (außer Konkurrenz) seine Weltpremiere.

Regie: Martin Provost 
Drehbuch: Martin Provost 
Musik: Grégoire Hetzel
Darsteller: Catherine Frot, Catherine Deneuve, Olivier Gourmet, Quentin Dolmaire, Mylène Demongeot 

117 Minuten
Deutscher Start: 08. Juni 2017

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