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Mittwoch, 11. Oktober 2023

Im Kino: Das Fliegende Klassenzimmer

Als Martina (Leni Deschner) ein Stipendium für das Johann-Sigismund-Gymnasium in Kirchberg im Alpenvorland erhält, ist sie überglücklich. Aber statt sich voll und ganz auf das Lernen konzentrieren zu können, wird sie sofort in den seit etlichen Schülergenerationen herrschenden Konflikt zwischen den Kindern, die im Internat leben und den Externen aus dem Dorf hineingezogen. Der beliebte Lehrer und Internatsleiter Johann „Justus“ Bökh (Tom Schilling) versucht vergeblich zu vermitteln, ebenso wie der Sonderling aus einem alten Bauwagen, genannt der „Nichtraucher“ (Trystan Pütter). Vielleicht kann die Aufführung eines Theaterstücks am Ende des Schuljahres helfen, die Wogen zu glätten, in dem die schöne Idee thematisiert wird, statt im öden Klassenzimmer zu sitzen, lieber in einem Flugzeug um die Welt zu reisen, und den Lehrstoff direkt vor Ort zu erleben…

Das Buch von Erich Kästner „Das fliegende Klassenzimmer“ aus dem Jahr 1933 gilt schon längst als Klassiker des Jugend- und Schulromans und wurde bereits mehrfach verfilmt, erstmals 1954, dann 1973 und 2003, vorliegend erhält also eine weitere Schülergeneration ihre – vierte – Version. Wenn ein Stoff auch nach neunzig Jahren noch eine aktuelle Relevanz hat – und die muss er haben, sonst wäre er zu Recht längst abgelegt und als vergessen abgehakt – dann ist es sicher legitim, einige Dinge aus der Ursprungsgeschichte der jeweiligen Zeit etwas anzupassen. Allerdings sollte man sich davor hüten, dabei allzu beliebig wesentliche Elemente so zu verändern, dass sie die Ursprungsintention des Autors verwässern oder gar verfälschen, denn dann sollte man lieber etwas ganz Neues schaffen und nicht das Angepasste als vermeintliche Verfilmung der Vorlage zu präsentieren.

Aus dem ursprünglich reinen Jungeninternat eine Schule mit Mädchen und Jungen zu machen, ist möglich, aber auch unnötig, denn im Kästner-Universum gibt es bereits schöne und starke Mädchengestalten, wie Pünktchen, die doppelten Lotten oder Pony Hütchen. Dass auch im Internat die Diversität Einzug gehalten hat, ist gut und legitim, ebenso wie die Modifizierung von familiären Hintergründen einzelner Schülerinnen und Schüler.

Dass man aber aus dem starken Matz einen reinen Trainingschampion macht, dem Kämpfe ansonsten aber nicht so liegen, verfremdet diese Figur schon sehr, was sicher der aktuellen politischen Korrektheit geschuldet ist. Und dass man die Mutprobe des kleinen Uli, mit einem Regenschirm vom Dach zu springen, was zwar drastisch, aber in seiner Situation völlig nachvollziehbar ist, zu einem reinen, eigentlich abgesicherten Kletterabenteuer mit anschließendem Unfall abmildert, wird dessen Figur so überhaupt nicht gerecht. Auch die Schneeball-„Schlacht“ der Jugendlichen wird zu einem noch harmloseren Strand- und Sandgeplänkel, nur keine jugendlichen Zuschauerinnen und Zuschauer unnötig aufwiegeln, möchte man denken, dabei verwässert man doch einiges, was die Seele der Buchvorlage ausmacht, vor allem, wenn man bedenkt, was Jugendlichen in der heutigen Zeit sonst so alles zugemutet wird.

Dann aber, und das ist vielleicht der schwerwiegendste Makel, wird das Verhältnis zwischen dem Lehrer Justus und dem Nichtraucher, das auf ursprünglich unbedingter Freundschaft und Vertrauen fußte, was Justus letztlich zu dem gemacht hat, was er heute ist, so lapidar abgehandelt, dass es fast schon schmerzt, und letzteres kann man im Übrigen auch über den Song sagen, der alles wieder herausreißen soll, was man vorher so lieblos bagatellisiert hat…

Und schließlich – last but not least – irritiert maßlos, dass in diesem Film, der ja so unbedingt im Jetzt und Hier spielen soll, keiner der Jugendlichen jemals ein Handy nutzt, außer, um damit Filmaufnahmen zu machen, ansonsten ist alles so analog, wie es vielleicht zuletzt in den 1980ger Jahren war. Wer sieht, wie sich Jugendliche heutzutage verständigen, wenn sie vor einem nebeneinandersitzen, und sich statt zu unterhalten Handy-Nachrichten hin- und herschicken, der muss sich fragen, in welchem Universum dieser Film eigentlich spielen soll, in diesem unseren aktuellen kann es jedenfalls nicht sein, und das nach all den sonstigen Bemühungen, zum Beispiel in Sprache und Attitüde, die Geschichte unbedingt in die Gegenwart transportieren zu wollen.

Wer die Buchvorlage nicht kennt, wird sich von diesen Kritikpunkten wahrscheinlich nicht so angesprochen fühlen, man kann sich den Film unvoreingenommen durchaus als nette Schulgeschichte anschauen, die zwar mit der Gegenwart – s.o. – trotz aller vorgeblichen Aktualisierungen nicht so viel zu tun hat und sich auf jeden Fall an der Leistung der  jugendlichen Darstellerinnen und Darstellern, die durchweg tadellos ist, erfreuen, aber vielleicht sollte man auch wieder mehr lesen… Mancher Stoff ist tatsächlich so zeitlos, dass er uns immer noch etwas zu sagen hat und in uns etwas berührt, und das sogar, wenn er in einem längst vergangenen Umfeld und einer vergangenen Zeit spielt. Unter Umständen kommt man dann auf den Geschmack, sich auch mit dem weiteren Werk dieses bedeutenden deutschsprachigen Autors zu beschäftigen, den Kinder- und Jugendbüchern, aber auch den Texten für Erwachsene. Und es gibt ja noch die anderen Verfilmungen, von denen tatsächlich die aus dem Jahr 1954 die beste ist, und dann heißt es, abzuwarten, wie die mögliche nächste Film-Variante ausfallen wird...

 

 

Regie: Carolina Hellsgård

Drehbuch: Gerrit Hermans, b/a auf dem Jugendbuch von Erich Kästner

Kamera: Moritz Anton

Schnitt: Charles Ladmira, Anna Kappelmann

Musik: Freya Arde

 

Besetzung:

Tom Schilling, Trystan Pütter, Hannah Herzsprung, Leni Deschner, Lovena Börschmann Ziegler, Morten Völlger, Wanja Valentin Kube, Franka Roche, Jördis Triebel

 

Leonine/ UFA Fiction Produktion

D 2023

89 min.

FSK 0

Deutscher Kinostart: 12. Oktober 2023

 

Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=m9WgkyeeKSM

 

 


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